Das MISEREOR-Hungertuch 2021 «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum»
Von Lilian Moreno Sánchez.
Foto: Dieter Härtl/Miseror
Der gebrochene Fuss sticht in diesem dreiteiligen Bild ins Auge. Als Grundlage diente der Künstlerin Lilian Moreno Sánchez ein Röntgenbild. Es zeigt den Fuss eines Menschen, der im Oktober 2019 in
Chile gegen die soziale Ungleichheit im Land demonstrierte und dabei verletzt wurde. Dieser Fuss steht für die Verletzlichkeit der Menschen, aber auch für die Verletzlichkeit der Systeme, in denen wir uns bewegen. Die Corona-Krise hat eindrücklich gezeigt, wie das Fundament der Gesellschaft oder das, was wir dafür hielten, schnell ins Wanken gerät. Die Schöpfung als Summe und Grundlage allen Lebens ist seit längerem durch die Klimaerwärmung bedroht. Dabei zeigt sich, dass wir Menschen nebst unserer eigenen Verletzlichkeit auch andere verletzen können. Gerne geht vergessen, dass die Verwundbarkeit von Natur und Mensch in gegenseitiger Abhängigkeit steht und eine intakte Schöpfung die Voraussetzung für gesundes Leben ist. Im Bild kommt mit den goldenen Blumen und Nähten zum Ausdruck, dass wir nicht im Leiden verharren sollen, sondern gerufen sind, Wege in den weiten Raum der Solidarität, der Hoffnung und der Liebe zu gehen.
Zur Entstehung und Bedeutung der Hungertücher
Mehr als ein alter Brauch: Geschichtlich lässt sich das Hungertuch bis etwa ins Jahr 1000 zurückverfolgen.
Der Name Hungertuch: Das Hungertuch bekam im Laufe der Geschichte verschiedene Namen, velum templi, also Tempelvorhang, so hiess es im Mittelalter. Im östlichen Alpenraum und damit vor allem in Kärnten kennt man die Hungertücher unter dem Namen „Fastentücher“. In Tirol findet man gelegentlich die Bezeichnung „Leidenstücher“. Im niederdeutschen Sprachgebrauch haben sie die Bezeichnung „S[ch]machtlappen“. In der Schweiz, in Schwaben und im Elsass, aber auch in Westfalen und in Sachsen werden sie „Hungertücher“ genannt. Weil die Fastenzeit offensichtlich für viele auch ein echtes Hungern bedeutete – vielleicht gingen in dieser Zeit die aufbewahrten Reserven vom Herbst zu Ende – gibt es den Ausdruck bis heute: am Hungertuch nagen. Der spätmittelalterliche Poet Hans Sachs reimte schon scherzhaft kritisch: „Ich füll mein Wanst und wasch mein Kragen, lasz Weib und Kind am Hungertuch nagen.“ Diese verschiedenen Namen weisen auch auf verschiedene Bedeutungen des alten Fastentuch-Brauches in der Geschichte hin:
Verhüllen des Mysteriums
Die Altarverhüllung durch ein „velum templi“ gehörte zum mittelalterlichen Brauchtum in der Fastenzeit. Der Theologe Wilhelm Durandus von Mende (+ 1296) bezeugte schon im 13. Jhd.:
„Das Tuch, welches in der Fastenzeit vor dem Altar aufgehängt wird, versinnbildet den Vorhang, der die Bundeslade verhüllte und beim Leiden des Herrn zerriss; nach diesem Vorbild werden heute noch Tücher von mannigfacher Schönheit gewoben.“
Am Aschermittwoch wurde es aufgehängt, und zwar bis zum Karfreitag, wo im Gottesdienst die Stelle vorgelesen wurde, dass nach dem letzten Schrei Jesu am Kreuz im Tempel der Vorhang mitten entzwei zerriss: et velum templi scissum est medium…
Verhüllen bedeutet aufwerten, nicht nur bei Geschenkpäckchen. Noch heute gibt es diese ehrfurchtsvolle Verhüllung des Gottesdienstgeschehens in der Ostkirche, wo zwischen Altar und Volk eine Ikonostase aufgestellt ist.
Lilian Moreno Sánchez
Künstlerin des Hungertuchs
Lilian Moreno Sánchez, geboren 1968 in Buin/Chile,
studierte Bildende Kunst in Santiago de Chile.
Mitte der neunziger Jahre erhielt sie ein Stipendium in München.
Seither lebt und arbeitet sie in Süddeutschland.
Ihre Kunst kreist um Leid und dessen Überwindung durch
Solidarität und verarbeitet die Erfahrungen während der
chilenischen Militärdiktatur.